Vom Glück des Helfens
Der Engel in Benin
Schwester Hanni lacht. Ein kurzer, einsilbiger Lacher, der eher Überraschung ausdrückt als innere Überforderung. Dabei hat sie sich soeben mit ihrem Auto in eine brenzlige Situation gebracht: Tiefschwarze Nacht in der westafrikanischen Millionenstadt Cotonou. Vor uns eine mit großen Steinbrocken gelegte Straßensperre. Kein Weiterkommen möglich. Nichts hatte darauf hingewiesen. Der Lärmpegel um uns ist enorm. Im Rückspiegel rasen Hunderte Lichtkegel auf uns zu, knattern haarscharf links und rechts an uns vorbei, ein nicht enden wollender Strom Motorräder. Menschen schreien, gestikulieren wild, deuten mit dem Finger in unsere Richtung. Chaos um uns. Es ist heiß und schwül, und die Straße ist extrem schmal. Doch Hanni Denifl bleibt ruhig. „Ups“, sagt sie, als sie versehentlich den fünften statt des Rückwärtsgangs erwischt. 10 cm nach vorn, 10 nach hinten, immer wieder, und dann endlich fahren wir gegen die Einbahn unserem eigentlichen Ziel entgegen, dem größten Markt Westafrikas.
Den wollen wir bei stockfinsterer Nacht erkunden, außerhalb der Öffnungszeiten quasi. Um einen Eindruck von den Tausenden Menschen zu bekommen, die tagsüber unter teils sklavenähnlichen Umständen arbeiten und Nacht für Nacht dann das Recht der Stärkeren ertragen müssen.
„Jedes über zehn Jahre alte Mädel, das spätnachts hier rumläuft, hat garantiert schon sexuelle Missbrauchserfahrungen durchleben müssen“, wird Schwester Hanni später sagen. Eigentlich hat man hier nachts nichts verloren, schon gar nicht als Weiße. So hat Schwester Hanni drei Aufpasser für uns organisiert: einen Sozialarbeiter und eine Sozialarbeiterin, die hier Tag für Tag versuchen, Kinder und Jugendliche von der Straße wegzubekommen, und eine Person, die offiziell für Recht und Ordnung am Markt sorgen soll, ein gesetzter Mann mit breitbeinigem Gang und machtbewusstem Habitus.
34 Jahre ist es her, dass Schwester Hanni erstmals afrikanischen Boden betrat. Damals war die gelernte Altenpflegerin noch keine Ordensschwester, sondern eine 22- Jährige, die sich mit einem einjährigen Volontariat ihren Traum vom Einsatz im Kongo erfüllte. Zwei Jahre später saß sie am Grab des heiligen Franz von Assisi in Italien und spürte, dass Gott sie rief. Mit 24 Jahren trat sie in den Orden der Don Bosco Schwestern ein.
Auf das Noviziat in Rom folgen das Krankenpflegediplom und die Abendmatura. 2006 dann wird sie erstmals auf Mission nach Afrika gesandt, an die Elfenbeinküste. Seitdem war sie in vielen westafrikanischen Ländern tätig. Mali, Ghana, Elfenbeinküste, Benin. Oft lebte sie dabei in brandgefährlichen Landstrichen. Orte, an denen Anarchie, Rebellengruppen und Banditen herrschten oder wo Aids Menschen zu Tausenden dahinraffte. Schwester Hanni kümmerte sich um Verwundete, Verletzte und Kranke. Immerzu von Leid umgeben, immerzu „von Gott geführt“, wie sie sagt. „Anderen Menschen helfen“, antwortet sie auf die Frage, was Glück für sie bedeute.
Seit über zwei Jahren arbeitet sie wieder in Benin. Bis vor Kurzem leitete sie hier interimistisch die Station der Don Bosco Schwestern. Aktuell wirkt sie aber wieder an der Basis, begleitet Jugendliche, die im Gefängnis sitzen, kümmert sich um Mädchen, die sexuell ausgebeutet wurden, leitet Mitarbeiter an. Irgendwie wirkt sie wie eine Grande Dame, die aufgrund ihrer reichhaltigen Erfahrung einen gesunden Überblick über die zahlreichen Projekte der Don Bosco Schwestern in Cotonou hat.
„Was wir Menschen alles aushalten, ist ganz und gar unglaublich." (Sr. Hanni)
72 Prozent der Bevölkerung Benins leben unter der Armutsgrenze. Unterernährung, Analphabetismus, fehlende Gesundheitsversorgung gehören zum Alltag. Dazu kommen Prostitution, Drogen, Kriminalität. „Am Rande des Todes“ heißt der Name Cotonou übersetzt ins Deutsche.
Und in der Nacht am Markt zeigt sich die Fratze der Armut besonders ungeschminkt. Lediglich vereinzelt leuchten matte gelbe Laternenlichter, größtenteils herrscht Finsternis auf der rund 20 Hektar großen Fläche. Überall aber liegen Menschen schlafend am Boden herum, teils wie Sardinen aufgereiht, die meisten ohne Decke, ohne Pappkarton als Unterlage, einfach in ihren Straßenkleidern. Hier ein Jugendlicher unter einem Verkaufstisch, da ein Mann in Seitenlage schnarchend, dort eine Frau im Langsitz an eine Mauer gelehnt, neben ihr drei kleine Babys, die wie tot rücklings nebeneinander bewegungslos auf dem nackten Betonboden liegen.
Erst bei näherer Betrachtung sieht man, dass sie atmen und ihre kleinen Gesichtchen überaus entspannt wirken, ganz so, als würde es ihnen an nichts fehlen. ,,Was wir Menschen alles aushalten, ist ganz und gar unglaublich“, sagt Schwester Hanni, die von einigen Passanten erkannt und zumeist freudig begrüßt wird. Da eine Frau mit Baby am Rücken und Stoffbeutel in Händen, die Schwester Hanni von ihrem Leid erzählt, dass sie nichts besitzt, seit sie ihr Mann verlassen hat, keinen Schlafplatz, kein Geld, keine Perspektive außer die von einem neuen Mann, der sie aufnimmt.
Vor uns ein stinkendes, braunes Rinnsal, in dem sich Menschen waschen, dann eine schmale, finstere Gasse, wo Frauen ruhig wie Salzsäulen im Dreck stehen, um ihre Körper anzubieten. Kurz darauf ein belebteres Areal, Menschen drängen geschäftig aneinander vorbei, Straßenverkäufer balancieren Körbe mit Waren am Kopf und bieten alkoholische Getränke und Snacks an, dazwischen streifen Kinder herum, manche nicht älter als 5, 6 Jahre.
Finstere Gestalten mit feindseligen Blicken checken uns ab, bleiben aber im Hintergrund, wohl unserer Aufpasser wegen. Burschen im Drogenrausch kreuzen unseren Weg, sofort kommen sie uns viel zu nahe, lassen erst wieder ab, als sie unseren robusten Begleiter registrieren.
Zwei jugendliche Mädchen herzen Schwester Hanni, ehemalige Gäste des „Hauses der Sonne“, eine von den Don Bosco Schwestern organisierte Schutzeinrichtung für Mädchen. Wenige Hundert Meter weiter wird Schwester Hanni überschwänglich von einer Gruppe Mädels begrüßt, sie nehmen sie bei den Händen und tanzen. Doch Hanni schwingt lediglich zurückhaltend mit den Armen vor und zurück, steht nur da und freut sich über die Begegnung und darüber, dass es den Mädchen offensichtlich nicht allzu schlecht zu gehen scheint.
Eigentlich muss man schon sehr genau hinsehen, um Schwester Hanni als Missionarin zu erkennen. Lediglich ein Kreuz an einer langen Kette um ihren Hals deutet darauf hin. Der Habit ist ihre Sache nicht, meist trägt sie ein weites, kurzärmeliges Hemd, einen knielangen Rock, Birkenstockschlapfen. Schlichtheit strahlt sie aus, Anspruchslosigkeit und Echtheit.
32 Jahre ist es her, dass sie beim Eintritt in den Orden das Versprechen der Armut, der Ehelosigkeit und des Gehorsams ablegte. Seitdem besitzt die 56-Jährige weder Bankkonto, Wohnung noch Auto. Nicht einmal ihr Zimmer gehört ihr allein, sie teilt es mit drei anderen Schwestern. Und trotzdem bereut Schwester Hanni keine Sekunde seit ihrem Noviziat. Obwohl sie schon Überfälle erlebte, zusammengeschlagen wurde und Todesängste aushalten musste.
Nach unserem zweieinhalbstündigen Marsch durch den Markt bringen wir die Sozialarbeiterin mit dem Auto heim zu ihrer Wohnung. Sie dirigiert uns durch ein Labyrinth aus staubigen, löchrigen und verwinkelten Wegen abseits der Hauptstraßen Cotonous. Nachdem wir unseren Gast haben aussteigen lassen, hat Schwester Hanni keinen Tau, wo wir uns befinden. Navigationsgerät haben wir keines. „Ha“, sagt Schwester Hanni lachend, „hier bin ich auch noch nie gewesen.“ Dann legt sie den ersten Gang ein und fährt los.
Erschienen in den Salzburger Nachrichten, 21. Dezember 2024